Der E-Commerce hat sich in den letzten Jahren aufgrund von technologischen Entwicklungen und Veränderungen des Kundenverhaltens über verschiedene Reifegarde entwickelt. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, die relevanten Technologie-und Markttrends zu erkennen und entsprechend zu bewerten.
Aktuell stehen Unternehmen vor der Herausforderung, den nächsten Reifegrad – den sogenannten Conversational Commerce – zu erklimmen. Dieser Reifegrad erscheint derzeit erstrebenswert, da die aktuellen Entwicklungen die Verkaufsbranche revolutionieren können. Das bedeutet, dass diejenigen, die mit der Implementierung des Conversational Commerce langsam vorgehen, Kunden an die Konkurrenz verlieren können. Auf der anderen Seite könnten Unternehmen beispielsweise auch durch eine frühe Einbindung von Bots von der öffentlichen Aufmerksamkeit profitieren.
Der Sprung zum Conversational Commerce stellt dabei keine graduelle, sondern eine fundamentale Weiterentwicklung des E-Commerce dar. Es geht dabei nicht nur um einen weiteren Touchpoint, der sprachgesteuert genutzt werden kann. Vielmehr geht es um ein neues Eco-System, das kunden- und situationsgetrieben automatisch Bestellprozesse auslöst und koordiniert. Intelligente Assistenten führen entweder Anweisungen der Konsumenten aus oder erkennen eigenständig Handlungsbedarfe wie Nachbestellung von Waschmitteln oder Reisebuchungen gemäß des Terminkalenders.
Ausschlaggebend ist jedoch auch, dass der Übergang zum Conversational Commerce gut durchdacht und geplant ist. Eine Möglichkeit, dies systematisch durchzuführen, ist das folgende DM3-Modell.
DAS DM3-MODELL ALS SYSTEMATISCHES VORGEHENSMODELL FÜR CONVERSATIONAL COMMERCE
Um die optimale Conversational-Commerce-Strategie und Roadmap zu ermitteln, wird auf Basis des Digital-Media-Maturity-Modells (DM3) zunächst eine digitale Standortbestimmung vorgenommen, um darauf basierend die nächsten Schritte der Transformation festzusetzen. Dabei werden die aktuellen Customer Touchpoints aufgenommen und hinsichtlich ihrer Automatisierung und Technologie-Unterstützung evaluiert.
Hierzu werden Customer Journey Tracking und Analytics Tools eingesetzt, die den Konsumenten über verschiedene Touchpoints wie Webseiten, Display, E-Mail und Social Media vermisst und analysiert. Damit lässt sich auch analysieren, welche Touchpoints eine direkte Konvertierungsfunktion und welche eher eine Assistenzfunktion haben.
Ebenso sind Rückschlüsse auf die zeitlichen Ursache-Wirkungs-Ketten möglich. Die Vielzahl an digitalen Touchpoints und Endgeräten sowie deren extrem variable Nutzung durch den Kunden lassen sich nicht mehr alleine durch Erfahrung und Bauchgefühl optimieren.
Abb. 4: Digitale Transformation im E-Commerce: Maturity Road to Conversational Commerce
Jeder Touchpoint muss sowohl für sich als auch im Zusammenspiel mit anderen Touchpoints hinsichtlich Kosten, Nutzen und Risiko analysiert werden. Nur so lässt sich die jetzige und zukünftig optimale Conversational-Commerce-Strategie ableiten. Dabei geht es in der Regel darum, den Trade-off zwischen Kosten, Nutzen und Risiko zu bewerten. So kann eine hohe Automatisierung eines Touchpoints zwar Effizienzvorteile bringen, aber auf der anderen Seite auch hohe Kosten und gegebenenfalls eine suboptimale Customer Experience hervorrufen. Ein systematischer Abgleich von Kosten, Nutzen und Risiken ist daher unabdinglich.
Dabei geht es nicht um 0/1-Entscheidungen. Vielmehr muss entschieden werden, welcher Automatisierungsgrad bei welchem Touchpoint wann Sinn macht
Plattformen und Checkliste
Einen Schritt operativer stellt sich unter anderem die Plattform-Frage für den Conversational Commerce.
So sollten sich Unternehmen zunächst für die Plattform entscheiden, auf der sich ihre Kunden schon befinden. Facebook Messenger kann in vielen europäischen Ländern und den USA eine gute Wahl sein, da die Zahl der Nutzer dort sehr hoch ist. Sollte der Kundenkreis vorrangig aus Millennials (der Generation, die etwa im Zeitraum von 1980 bis 1999 geboren wurde) bestehen, könnte Snapchat besser geeignet sein. In vielen Ländern dominieren auch WhatsApp, Viber oder Line. Wenn sich die Zielgruppe vorwiegend in China befindet, ist WeChat die passendste Plattform. Im nächsten Schritt sollte überlegt werden, ob es genug Ressourcen gibt, um einen Bot nicht nur zu kreieren, sondern auch zu unterhalten. Dies gilt sowohl in Hinsicht auf Fachkompetenz wie auch auf Personal. Falls die Expertise im Unternehmen nicht vorhanden ist, ist es ratsam, für die technische Umsetzung einen Partner heranzuziehen.
Aber auch die Zeit und Kosten für die Unterhaltung des Bots auf lange Sicht sollten nicht unterschätzt werden. Denn obwohl der Bot automatisiert ist, wird Zeit gebraucht, um a) den Bot zu promoten, b) die Fälle zu prüfen, in denen der Bot nicht helfen konnte, c) die Kundenzufriedenheit zu messen und d) stetig an der Verbesserung des Bots zu arbeiten.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der gut überlegt werden muss, ist, wie die Markenpersönlichkeit des Unternehmens über Conversational Commerce beibehalten und gefördert werden kann. Dass die Werte der Marke im Online-Chat vermittelt werden, ist besonders wichtig, da diese Konversationen einen sehr menschlichen Touch haben. Das setzt voraus, dass eine konsistente Markenpersönlichkeit existiert; im Zweifelsfall sollte sie schnellstmöglich vor Einsatz des Conversational Commerce kreiert werden.
Abb. 5: Ableitung individueller Handlungsempfehlungen auf Basis der Conversational-Commerce
Zentral ist auch, dass ein eindeutiger, sinnvoller und gut studierter Use Case für den Einsatz von Chatbots vorliegt. Welches Ziel soll mit dem Bot erreicht werden, und ist dieses – auch im Anfangsstadium – realisierbar? Findet durch den Einsatz von Bots eine Verbesserung des Service für den Kunden statt? Als Negativbeispiel sind die unzähligen Apps zu nennen, die für den Nutzer im Vergleich zur Webseite keinen Vorteil haben. Jede Schnittstelle zur Marke wird vom Kunden auf andere Art und Weise genutzt werden, sodass erforscht werden muss, wie sich die Interaktion mit dem Kunden im Detail ändert, wenn eine neue Schnittstelle eingeweiht wird. Durch Analyse der derzeitigen Kommunikation mit den Kunden können Themenbereiche gefunden werden, für die sich der Einsatz eines Bots anbietet. Generell lohnt es sich für Unternehmen, wenn die Bots schrittweise und in klar abgrenzbaren Gebieten implementiert werden. Anders ausgedrückt, sollte der Einsatz von Chatbots auf die Bereiche begrenzt werden, in denen er besonders gut funktioniert. Der Rest sollte Menschen überlassen werden, bis die Technik ausgereift ist. Dies erhöht auch die Akzeptanz beim Kunden. Wenn von Anfang an beispielsweise das ganze Buchungssystem einer Fluggesellschaft umgestellt wird, kann das sehr riskant sein, denn die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht direkt reibungslos funktioniert, ist sehr hoch. Chris Messina betont, dass man einen Bot keinesfalls für Spam einsetzen sollte. Im Conversational Commerce können frustrierte Kunden den Erfolg eines Unternehmens stark beeinflussen, da sie mit der Marke in gleicher Weise interagieren wie mit einem Menschen. Wenn es dagegen gelingt, dem Kunden einen bequemen, personalisierten und sinnvollen Service zu bieten, kann ein Unternehmen vom Conversational Commerce deutlich profitieren.
CHECKLISTE FÜR UNTERNEHMEN
- Auf welcher Messaging-Plattform befinden sich meine Kunden?
- Sind ausreichende Ressourcen hinsichtlich Expertise und Personal vorhanden für einen langfristigen Unterhalt des Bots?
- Hat mein Unternehmen eine Markenpersönlichkeit, und existiert eine Strategie, diese in Online-Konversationen zu vermitteln?
- Ist der Bereich, in dem Bots eingesetzt werden sollen, klar abgegrenzt, und können die Bots das geplante Ziel erreichen, ohne Kunden zu enttäuschen?
In einer vom Institut für Handelsforschung (IFH) in Köln durchgeführten Studie wurde herausgefunden, dass 57 % der internetrepräsentativ befragten Konsumenten Conversational Commerce bereits genutzt haben. Da jeder zweite dieser Gruppe älter als 50 Jahre war, scheint die Implementierung von Conversational Commerce nicht nur bei jüngeren Menschen Anklang zu finden. Das IFH empfiehlt die Anwendung von Conversational Commerce vor allem für Branchen mit erhöhtem Beratungsbedarf beim Kunden. Der Studie zufolge scheinen die Branchen der Unterhaltungselektronik, des Tourismus sowie der Banken und Versicherungen besonders gut für den Einsatz von Conversational Commerce geeignet zu sein. Die Mehrheit der Befragten gab zudem an, dass sie sich vorstellen könnten, Sport- und Freizeitartikel sowie Kleidung und Accessoires über Conversational Commerce zu erwerben.
CONVERSATIONAL AI & BIG DATA
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Customer Centricity und Artificial Intelligence verwundert die zum Teil erschreckend schlechte Performance von automatisierter Kunden-Kommunikation und –Interaktion in der Unternehmenspraxis.
Dabei ermöglichen die in den letzten Jahren massiv besser gewordenen Conversational AI-Technologien wie NLP, NLU und Deep Learning durch ihre Leistungsfähigkeit und Skalierbarkeit hohen wirtschaftlichen Nutzen und damit Wettbewerbsvorteile.
Jüngste Erfolgsmeldungen von Google’s Meena, Facebook’s Blender oder OpenAI’s GPT-3 proklamieren dabei den nächsten grossen AI-Meilenstein nach dem Hype um Deep Learning. In der Tat sind die auf AI-basierten Dialoge faszinierend menschenähnlich und unterhaltsam. Diese Entwicklung bezieht sich dabei sowohl auf das verbesserte Verständnis der Sprache im Sinne von Erkennen von Intents und Kontexten, als auch die zunehmende Antwortqualität. Basis aller drei AI-System sind riesige Trainingsmengen im Internet. Damit werden riesige Sprach- und Wissensräume erschlossen, die jene begeisternden Dialoge und Antworten ermöglichen. Allerdings gibt es hier keine überwachte Qualitätskontrolle, auch der im Internet vorhandene Bias wird mitgelernt. Die Frage ist, welcher Nutzen neben dem Entertainment-Effekt diese neue Stufe der Conversational AI für Unternehmen bedeutet. Für allgemeine Dialoge und größere Branchenthemen könnten Unternehmen durchaus davon profitieren. Für Unternehmens- und Produktspezifische Antworten, ist die Trainingsmenge vom Volumen nicht vergleichbar. Der Qualitätsverlust liesse sich analog zu Google im offenen Internet mit der Google-Lösung im Intranet vergleichen. Ebenso lassen sich Kunden- und Unternehmensspezifische Kontexte verlässlich nur mit NLU (Natural Language Understanding)-Ansätze gewährleisten, die entsprechende Lexika sowie umfangreiche Kontextmodellierung benötigen.
Abb. 6: Converational AI – Hybrid AI als Königsweg
Der Königsweg in der Zukunft ist meiner Auffassung nach daher ein hybrider Ansatz, der Wissenskonzepte und Kontrolllogiken mit dem generativen Ansatz verknüpft. Damit lässt sich die Mächtigkeit des impliziten Lernen durch Deep Learning qualitätsgesichert nutzen und zugleich Unternehmens- und Produktspezifisches Wissen einbringen.